Der Turm

Wenn man in München vom Turm spricht, ist nicht der Alte Peter, ein Rathausturm, ein Frauenturm oder der Olympiaturm gemeint. Die Kurzbezeichnung Turm steht für den Chinesischen Turm im Englischen Garten. Meine bisherigen Artikel oder Fotobücher haben das Bauwerk in der nahen Umgebung am Tivoli in München bereits gestreift. Dieser Beitrag bezieht sich aber nicht auf das Gebäude, sondern auf den Biergarten, der bei vielen Münchnern einfach nur „der Turm“ heißt. Er ist zwar nicht der größte Biergarten, aber zentral gelegen und weltweit bekannter als der Hirschgarten, der um 1000 Sitzplätze mehr als der Turm mit 7000 hat. Da München die Welthauptstadt des Biergartens ist, darf man den Turm wohl als den berühmtesten Biergarten der Welt bezeichnen.

Seit dem Beginn meines Studiums im Jahr 1975 wurde der Turm für mich zum Anziehungspunkt, weil ich ein Zimmer im nahe gelegenen Nordteil des Lehels mietete. Wer erinnert sich noch an die damaligen, langen Schlangen vor den Schänken, an die Flitzer sowie an den Schwert- und Feuerschlucker? Mitte der 80er Jahre lernte ich am Turm einige Gäste kennen, die sich regelmäßig zu einer mitgebrachten Feierabendbrotzeit trafen. Die Runde vereinigte sich mit Nachbartischen zu einer größeren Gemeinschaft mit dem selbst gewählten Namen Kastanie 7. Dieser Baum musste irgendwann gefällt werden, und die Bezeichnung geriet in Vergessenheit. In der Blütezeit wurde an die Adresse Kastanie 7 Post zugestellt. Die Mitgliederzahl wuchs ständig, so dass der selbst ernannte Präsident einmal aus Gaudi sogar Platzkarten verteilte.

Da ich in der Nähe wohnte, war die Kastanie 7 für mich sehr praktisch. Ich musste mich nicht verabreden und war immer in Gesellschaft, wenn ich zum Turm ging. Etwas problematisch waren nur das häufige Stühle rücken und Tische zusammenstellen für Neuankömmlinge. Es konnte passieren, dass man nach einiger Zeit zwei herangerückte Tische entfernt von seinen anfänglichen Tischnachbarn saß. Ein weiterer Nachteil war, dass ich nicht mehr zum Turm gehen konnte, um in Ruhe essen und trinken oder einfach nur Zeitung lesen zu können. Im Lauf der Zeit festigten sich die Beziehungen durch Geburtstagsfeiern mit gedeckten Tischen und mitgebrachten Brotzeiten. Aus den Biergartenrunden entstanden Freizeitgesellschaften mit Treffen, Ausflügen und Feiern über das ganze Jahr.

Die Gemeinschaften und Beziehungen veränderten sich. Mit benachbarten Tischen gab es Verschmelzungen, aber auch Abgrenzungen. In diesen Prozessen zeigte sich neben Freiheit, Gemütlichkeit und Heiterkeit auch gestörtes Verhalten. Ich wollte mich neu orientieren und fand andere Kontakte. Geblieben sind für mich ein Zuwachs an Lebenserfahrung und viele Fotos, wobei der überwiegende Teil wegen des Rechts am eigenen Bild hier nicht veröffentlicht werden kann. Trotzdem erstelle ich diesen Beitrag, weil das Thema zu meiner Fotosammlung und Lebensgeschichte gehört. Man muss sich beim Betrachten der Fotos von Tischen mit Bierkrügen einfach eine Vielzahl von Personen vorstellen, die unterschiedlicher nicht sein können, aber dennoch eine typisch münchnerische Biergartengemeinschaft wollen.

Ich denke mit Wohlwollen an diese Zeit, kann sie mir aber für mein heutiges Leben nicht mehr vorstellen. Eine beabsichtigte oder verabredete Unterhaltung, die ich mit alten und neuen Bekannten an anderen Orten pflege, ist mir lieber. Ich freue mich über eine tägliche kleine oder große Fahrradtour, die Zeitungslektüre sowie über serviertes Essen und Trinken. Der Konsum im Biergarten wurde der Selbstbedienung und Profitsteigerung im Supermarkt immer ähnlicher. Auf den Internetseiten des Betreibers der Gastronomie am Chinesischen Turm wird der Biergarten gar nicht erwähnt, nur das gleichnamige Restaurant mit üblicher Werbung sowie einigen Fotos von Kocherlball und Christkindlmarkt. Vor Jahren gab es noch eine Reihe von Veranstaltungen am Turm, z. B. Konzerte, Sommerfest und Weinfest, die wahrscheinlich für den wirtschaftlichen Erfolg nicht mehr notwendig sind. Biergartenbesucher und internationale Touristen kommen in dieser zentrumsnahen Lage offensichtlich von selbst. Andere Biergärten haben ein abwechslungsreiches Veranstaltungsangebot mit Ankündigungen und Darstellungen im Internet.

In den Wohnungen am Tivoli in München hört man bei geöffnetem Fenster die Blaskapelle vom Biergarten am Chinesischen Turm. Wahrscheinlich sind die Musiker nicht mehr dieselben wie vor Jahren. Auch die Stammgäste und das Personal haben sich wohl verändert. Einige Mitglieder der Kastanie 7 sind bereits verstorben, andere haben den Weg in die innere Einsamkeit angetreten. Viele treffen sich weiter am Turm mit eigenen Erfahrungen und Turmgeschichten. Für mich ist der Turm wie eine andere Welt geworden, obwohl ich in Hör- und Sehweite wohne, aber meine Einstellungen und Beziehungen haben sich verändert. Der Turm war und ist mein nächstgelegener Münchner Biergarten. Er begleitete mich in der studentischen Jugend, in der beruflichen und partnerschaftlichen Entwicklung sowie in der Neuorientierung nach Zeiten der Spießigkeit eingesessener Beziehungen. Vielleicht sollte ich wieder einmal am Turm vorbeischauen?

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Der Turm – Blick von oben nach unten

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Münchner Bier am Turm – auf Löwenbräu folgte 2002 Hofbräu, Freibier vom Sepp, Motiv des Steinkrugs für Stammgäste

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Tischlein deck dich im Biergarten am Chinesischen Turm

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Wurst, Käse, Tomaten, Paprika, Radi, Radieserl und „Häppchen aus dem Sack“ (…versteht nur Bernhard und seine Freunde, herzliche Grüße)

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gesäubert – geschnitten

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gesalzen – geweint

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Beschreibung des Wegs zum Hofbräuhaus – Chinesen am Chinesischen Turm

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Beifall eines Ureinwohners – Schwarz-Gelb kurz vor dem Ende

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Der Regen kommt, Versammlungen unter Schirmen und Blätterdächern, Flucht

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10 Kommentare

    • Lieber Udo, wenn Du meine Beiträge anschaust, wirst Du feststellen, dass ich manchmal neben Aumeister und Hirschau auch am Turm bin. Über ein Treffen würde ich mich natürlich auch freuen. Die Gelegenheiten, z. B. im Paradiso oder am Tennisplatz werden aber immer weniger. Vielen Dank für den freundlichen Kommentar und herzliche Grüße aus der Nachbarschaft, Josef

  1. Münchner Biergartenkultur – oft kopiert, nie erreicht.
    Mei, wos daad’n mia etz füa an sauban Radi und a frische Maß geem…?
    Selber Schuld, sind wir! Am 2. Februar, bei naßkaltem Wetter schaugt man sich solche Fotos einfach nicht an! Aber wenn doch? Ja mei…, sagt da der Münchner.

    • Ich gebe zu, dass der Beitrag eine Anregung zum Essen und Trinken sowie zu Genuss und Gemütlichkeit sein kann. Der Biergarten Tivolifoto ist halt ganzjährig geöffnet. Danke für Euren freundlichen Kommentar und herzliche Grüße aus München, Josef

  2. Hallo Josef, zur Vervollständigung Deines Textes und der Bilder sei noch gesagt, dass die hellen Punkte an den einzelnen Dächern des Turmes kleine Glöckchen sind. Hast Du sie mal insgesamt gezählt? Elisabet L.

  3. Lieber Bernhard, heute ist mein Angebot im Internet über die Suche nach „häppchen bernhardt englischer garten münchen“ gefunden worden. Das ist der Durchbruch. Jetzt bist Du weltberühmt. Ich wünsche Dir Glück, Gesundheit und viele gute Häppchen. Herzliche Grüße an Dich und Deine Freunde vom Tivoli

  4. klasse blog und tolle fotos. das bier und den leberkaes haette ich jetzt auch gern *schleck* es gibt kein besseres bier als das bayrische. schick mir doch bitte mal’ne mass rueber, ich hab jetzt so richtig durst bekommen beim anschauen deiner schoenen bierfotos

    lg
    Sammy

    • Liebe Sammy, ich freue mich, dass Dir mein Angebot gefällt und danke Dir für das Lob. Heute habe ich den Engel Aloisius, unseren „Münchner im Himmel“ beauftragt, die Maß rüberzubringen. Mit ein wenig Phantasie kannst Du es wahrnehmen, wann sie ankommt. Liebe Grüße Josef

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