Leberkas-Scheiberl am Chinaturm

Leberkas-Scheiberl am ChinaturmMein Gedächtnis sagt mir, was ich vorher gegessen habe. Gaumen und Geschmack können sich aber nicht einigen. Es handelt sich wohl um eine Brühwurstsorte und etwas Teiggebackenes. Verstandesmäßig werde ich an den Kauf einer Leberkassemmel beim Brotzeitstandl des infektionsschutzleeren Biergartens am Chinesischen Turm erinnert.

Hingegangen bin ich, weil Münchner Tageszeitungen über den Verkauf der sogenannten Ochsensemmel des ausfallenden Oktoberfests im Sinne einer kostenfreien Werbung berichtet hatten. Beim Beobachten des Verkaufsgeschehens hatten mich aber Riesenverpackungen und 7.50 Euro abgeschreckt. Ich wollte ja nur eine Kleinigkeit. So dachte ich mir, mit dem Erwerb einer Münchner Leberkässemmel für 2.70 Euro nichts falsch zu machen.

Ich bestellte, legte die Münzen in eine Gummihandschuhhand und erhielt eine Papiertüte mit Kunststoff-Sichtfenster und einem Packpapierknäuel im Inneren. Meine Vermutung war, dass sich das Kulturgut Leberkassemmel im Papier versteckt. Die vorgeschlagene Zugabe von Senf oder Ketchup in Plastikpäckchen lehnte ich ab.

Die Rechnung Nr. 77895, Kasse 915, Raum Standard-Buchun vom 09.05.2020 um 14:51 Uhr für 1x Leberkäse Semmel musste ich aber annehmen. Dabei erfuhr ich, dass ich 2,52 + 7,0% MWSt: 0,18 gegeben und per Bar bezahlt hatte. Außerdem teilte mir die Restaurant am Chin.Turm, Haberl GmBH, Englischer Garten 3, 80538 München mit: Vielen Dank für Ihren Besuch.

Es folgte der Name der Mundschutz- und Plastikhandschuh-Bedienung oder -Kassiererin sowie jede Menge Buchstaben und Zahlen im Sinne von Steuer-Chinesisch und in der Anordnung von fünfzehn Zeilen Druckerschwärze – alles Müll sozusagen, einschließlich Tüte, Packpapier und Kunststoff. Dabei wollte ich nur eine klassische Leberkassemmel, die mir mit einer Serviette in die Hand gegeben wird: a Semme, a Scheim Leberkas und sonst nix.

Eine ehrliche Semmel altert im Verlauf eines Tages je nach Beschaffenheit und Luftfeuchtigkeit. Das ist ein würdiges Alter, und der Geschmack bleibt erhalten. Eine Scheibe Leberkäse wird im Normalfall von einer warmgehaltenen Stange frisch abgeschnitten und rutschfest zwischen zwei Semmelhälften gelegt. Dabei ist der Semmeldurchmesser in der Regel kleiner als der Querschnitt einer einzigen Leberkäsescheibe. Man kann sich also mit saftigen Stücken von den Rändern bis zum Mittelpunkt durchbeißen. Die Serviette ist praktisch für Mund und Finger. Anders gefaltet eignet sie sich sogar noch zum Schneuzen.

Die Turmsemmel war aber nicht klassisch, sondern aus einem gefrorenen Zustand erwacht, aufgetaut und angewärmt. Vermutlich handelte es sich eher um ein billiges Importprodukt aus China als um das Erzeugnis einer heimischen Bäckerei. Der Luftanteil ist parallel zum künstlichen Geschmack erhöht worden. Das Kauerlebnis kann man als knisternd und künstlich bezeichnen. Der Geschmack bewegt sich zwischen Luft und Kunststoff. Daran ist man jedoch gewöhnt und es wäre auch gar nicht so schlimm, weil ich ja in erster Linie Leberkäse schmecken wollte.

Was der Gast will und was die Haberl-Gastronomie vermutlich nicht nur am Turm anbietet, sind jedoch zwei verschiedene Paar Stiefel. Vor zwei Jahren hatte ich meine Wahrnehmungen dazu mit dem Titel Biergarten am Chinaturm – Supermarkt und Preißngarten bei Tivolifoto veröffentlicht. Auf dem Weg zum weltberühmten Münchner Leberkas-Schriftsteller muss ich mich jetzt selbst zitieren:

Die ärmste Sau im Gesamtangebot ist aber der sogenannte Leberkaswürfel. Die kleine Würfelform entstand als Weiterentwicklung der großen Stangenform, damit sich das handwerkliche Abschneiden einer wohlriechenden und geschmackvollen Scheibe erübrigt. Der einmal erwärmte Würfel kann warmgehalten, gestapelt und ganztägig angeboten werden. Irgendwie schmeckt er dann schon nach Leberkäse, vielleicht sogar noch am nächsten Tag. Und wem das nicht passt, der soll halt das Aroma einer frisch abgeschnittenen Scheibe mit einer Senforgie über die Würfelhälften ersetzen.“

Zwei Jahre nach dem Supermarkt-Preißn-Beitrag musste ich feststellen, dass der Supermarkt sogar in einem neuen, virusbegründeten Brotzeitstandl am Chinaturm überlebt. Preißn bleiben in München als Touristen coronabedingt noch aus, als Bewohner der bayerischen Landeshauptstadt treiben sie aber weiterhin ihr Unwesen. Außerdem hat sich der personalsparende Großbetrieb jetzt selbst ausgetrixt, weil für das Zerschneiden des Würfels eine Arbeitskraft notwendig war.

Eine kleine bayerische Landmetzgerei würde mir so etwas nicht verkaufen. Ich weiß immer noch nicht, was ich gegessen habe. Wenigstens kann ich mich an die Form erinnern. Es waren nicht nur eine, sondern gleich drei Scheiben – oder besser gesagt Scheibchen – oder noch besser auf bairisch Scheiberl – in der Lautschrift [‚ʃaɪ̯bɐl].

Das Runde ist dabei großzügig zu verstehen, weil die Scheiberl von einem Würfel abgeschnitten worden sind. Das ist vergleichbar mit der wunderbaren Brotvermehrung im Neuen Testament: Aus einer Portion Leberkaswürfel werden viele Leberkasscheiberl. Die Miniaturisierung darf man auch nicht zu hoch bewerten. Die neubayrischen Isarpreißn sind doch eh alle auf Diät und der Geschmack ist ihnen doch eh wurscht – Hauptsache bayrisch. Oder habe ich vielleicht einen Preißnkas gegessen? Nein, das hätte mich gewürgt. Die Leberkasscheiberl waren somit für einen altbayerischen Magen-Darm-Trakt verdaulich. Was danach herauskommt ist wahrscheinlich noch bescheidener als die gesamte Angelegenheit.

Eines der drei Scheiberl war ein Randstück, die zwei anderen stammten aus dem Inneren des ehemaligen Würfels. Drei Scheiberl sind natürlich mehr der Gefahr des Austrocknens und Aromaverlusts ausgesetzt als eine große Scheibe. Daher war wohl auch meine Unwissenheit über das Verspeiste gekommen.

Noch ein Wort zur Menge: In Bayern kennt man das Empfinden und die Bezeichnung des Überstehens beim Leberkas. Mit hohem Fettanteil, bei geringem Geschmack und ab einer gewissen Menge wird er einfach zu viel. Ich schätze einmal über 150 Gramm in einer Semmel. Auf dem Teller ist die Überbietung einer solchen Menge verpflichtend geworden, damit ein hoher Preis gerechtfertigt wird. Bei den Chinaturmscheiberl geht es aber um Unterbietung. Die drei vom Würfel dürften kaum die 75-Gramm-Grenze erreicht haben. Das war wohl im Sinne der Sparsamkeit des Supermarktangebots beabsichtigt.

Die Produktbezeichnung Münchner Leberkässemmel beleidigt jeden Münchner Metzgereibetrieb und seine einheimischen Kunden. Ich empfehle der beschränkt haftenden Haberl-Gesellschaft die Phantasie der Sterne-Gastronomie, z. B. Scheiberl von bayerischer Brühwurst im ostasiatischen Aufbackmantel. Passend wäre auch die Findigkeit moderner Marketingstrategen: Leberkäs-Togo. Das würden sogar die Preißn mit ihren leckeren Fleischkäsebrötchen verstehen.

Ein bisschen schon, aber insgesamt weiß ich immer noch nicht, was ich gegessen habe. Für mich wird ein Vergleich notwendig. Dazu besuche ich den Kiosk am Seeeinlauf zwischen Chinaturm und Kleinhesseloher See. Dort wird mir mit einer Serviette eine richtige Leberkassemmel in die Hand gegeben. Geschmack, Menge und Scheibenform passen. als Beilage gibt es kostenlos ein freundliches Augenlächeln über der pflichtgemäßen Mund-Nasen-Bedeckung. Zum Dank übergebe ich diese und meine bisher drei weiteren Münchner Leberkas-Geschichten – also mein gesamtes Leberkas-Quartett auf vier Din-A4-Seiten im PDF-Format.

Weitere Leberkas-Erfahrungen im Englischen Garten am 14. August 2020

Nach meiner Leberkas-Pleite am Chinaturm versuchte ich, das Leberkas-Glück an weiteren Kiosken im Englischen Garten zu finden. Das Fräulein Grüneis hat aber keine Leberkassemmel und scheint klassischen bayerischen Speisen nicht besonders gewogen zu sein. Um das Mini-Hofbräuhaus mache ich einen großen Bogen. Dort verkehren nämlich meist Hundehalter, die die Leinenpflicht im Englischen Garten nicht beachten.

Mein nächstes Ziel ist der Tivoli Pavillon. Nach der Bestellung werde ich gefragt, ob ich den Leberkas kalt oder warm möchte. Die Selbstverständlichkeit der warmen Leberkassemmel hat sich anscheinend bis dorthin noch nicht herumgesprochen. Dann wird eine halbe Scheibe Leberkas vor meinen Augen auf einen Teller gelegt und in die Mikrowelle geschoben. Ich fügte mich dem Schicksal, zahlte 3.50 Euro und würge die aufgewellt erwärmte, halbe Portion in einer halbwegs genießbaren Semmel hinunter.

Vergleichbares nehme ich am Milchhäusl, aber zum Preis von 4.40 Euro wahr. Die Semmel ist eine doppelte Portion, die als Krusterl bezeichnet wird und über ein blasses, erbleichtes und aufgetautes Erscheinungsbild verfügt. Geschmacklich erlebe ich eine künstliche, trockene Geschmacklosigkeit mit einer leicht knusprigen Fläche in der oberen Hälfte. Zwischen den Hälften befindet sich keine Scheibe, sondern ein lauwarmer, ebenfalls geschmacksfreier Keil, den ich beim Verzehr ständig verschieben muss, um nicht alleinig in das arme, verstaubte Krusterl beißen zu müssen. Die teure Kau- und Würgeerfahrung wird wohl eine Einmaligkeit bleiben.

Im Englischen Garten fehlen mir jetzt nur noch Erfahrungen mit Leberkassemmeln im Aumeister und in der Hirschau. Vorläufig möchte ich aber lieber darauf verzichten.

Neue Leberkas-Erfahrung am 21. August 2020 im Fräulein Müller Kiosk

Manchmal bilde ich mir beim täglichen Radeln vom Tivoli zum Aumeister ein Einkehrziel mit Brotzeit ein. Heute war es um 10:00 Uhr der Fräulein Müller Kiosk und ein Leberkas mit zwei Eiern, Brezn, Zeitung und… Mehr verrate ich nicht. So ein bayrischer Frühschoppen um diese Zeit ist schließlich eine Ausnahme. Zusätzlich liegt auf dem dekorierten Teller sogar noch ein Butterstück. Besser hätte ich es nicht erwischen können. Meine Vorstellung wird mit Genuss und Freundlichkeit erfüllt. Fast komme ich wegen der vielen neuen Eindrücke nicht zum Zeitunglesen. Beim Radeln habe ich jetzt eine Einbildung mehr, die sich bestimmt bald wieder erfüllen wird.

2023er Erfahrungen am Tivoli Pavillon

Tivolifoto hält es für möglich, aus dem Tivoli Pavillon einen schönen Biergarten zu machen. Das geht aber nicht mit billigem Plastikmobiliar, schreiender Eiscremewerbung und der unpassenden Plattenwüste mit der Anmutungsqualität eines Soldatenfriedhofs.

Tische und Stühle weisen den Weg zu einer gemütlichen Gartenatmosphäre. Sie wären im zweiten hinteren Gartenteil vorhanden und müssten nur gegen den vorderen Plattensee ausgetauscht werden. Seltsamerweise wird diese gästefreundliche Möglichkeit nicht umgesetzt.

Die vorderen Tische und Bänke sind farblich fehlplatziert und überflüssig, weil Menschenmassen wie in Bierzelten ohnehin nicht zu Pavillon kommen. Dafür erlebt man treue Stammgäste aus Schwabing, dem Lehel und dem traditionellen München.

Die Preise sind angemessen und liegen unter dem mittlerweile sehr hohen Biergartenniveau für Selbstbedienung. Weißwürste schmecken. Der Leberkas ist geschmacklos. Eine gute Leberkassemme wäre ein Aushängeschild, da sie fast ausgestorben ist. Für Brezn und Semmeln gäbe es erheblich bessere Aufbackwaren.

Gegenwärtig trifft die Bezeichnung Tivoli für den Pavillon nicht ganz zu, weil sie eigentlich für besonders schöne Orte gedacht ist. Tivolifoto wünscht dem namensgleichen Pavillon viel Erfolg auf dem Weg zum Biergartenhimmel.

2 Kommentare

  1. Oh mei…. Jetzt wird es Zeit, dass das Hofbräuhaus aufmacht, dann bringe ich wieder den guten Leberkas vom Metzger Beck in Ismaning mit. Zwar kalt und in dünnen Scheiben – aber den Schmarrn vom Chinaturm dürfte der Ismaninger Leberkas trotzdem übertreffen!

    • Ich kann es kaum erwarten. Du musst aber in Kauf nehmen, dass ich mindestens die Hälfte Deines Mitgebrachten verdrücke. Er hat mir immer großartig geschmeckt. Mit den Turm-Scheiberl kann man das überhaupt nicht vergleichen. Industrie- und Handwerksprodukte beim Essen sind verschiedene Welten. Vom Aroma des Ismaningers kann man nur träumen.

Schreibe eine Antwort zu SeppAntwort abbrechen