Wirtshaus Wiesn 2020 und Hofbräuhaus

Wirtshaus Wiesn 2020

Aktualisiert am 8. Oktober 2020

Wirtshaus Wiesn 2020

Seit zehn Jahren fotografierte und veröffentlichte ich um diese Zeit Motive, die mit dem Oktoberfest zu tun hatten, z. B. Festzug, Historische Wiesn, Oide Wiesn, Zentral-Landwirtschaftsfest, Traditionszelt. Das eigentliche Festereignis lies ich aber aus, weil es kein Fest mehr für das Volk war und mir die bloße Geldschneiderei missfiel. Insgesamt hatte das Oktoberfest für mich nicht mehr zum altbayerischen Lebensgefühl gehört.

2020 konnte ich ebenfalls nicht fotografieren. Die Corona-Pandemie hatte mir die gewohnten Fotomotive weggenommen. Mit diesem Beitrag muss ich jedoch gegenwärtiges Denken und Erleben schriftlich mitteilen. Dabei darf ich meine grundsätzliche Meinung vorwegnehmen:

Die Wirtshaus Wiesn ist das dümmste, was München, Altbayern und dem Hofbräuhaus in der Coronakrise passieren konnte.

Für mich handelt es sich um einen Missbrauch der Münchner Wirtshauskultur, der nichts mit örtlicher Lebensfreude und angemessenem Feiern angesichts einer weltumspannenden Krise zu tun hat. Die Idee dazu entstammt nicht dem Bedürfnis nach einem Wiesngefühl der Stadtbewohner, sondern der Habgier von Wiesn- und Innenstadtwirten.

  • Erste Folge war ein überfüllter Biergarten vom Viktualienmarkt bis zum Platzl bei der Eröffnung am Samstag, den 19. September,
  • zweite Folge die Verringerung der Wirtshausgäste in München auf fünf Personen pro Tisch,
  • dritte Folge ein Reservierungswahn in teilnehmenden 18 Gasthäusern der großen Wiesnwirte und 36 Betrieben der Innenstadtwirte.

Bekanntlich dienen Reservierungen mehr den Wirten als den Gästen. Außerdem bewirken sie den Untergang der altbayerischen Wirtshauskultur, weil das freie, selbst bestimmte Dazusetzen, Zusammensitzen und Miteinanderreden an langen Tischen tragende Säulen sind. Anderswo mag das Platziertwerden und Reservieren üblich sein, traditionsbewusste Altbayern und Münchner werden das nicht nachmachen.

Zur altbayrischen Wirtshauskultur gehören Dazusetzen und Miteinanderreden, nicht außerbayerische Abgrenzung und Reservierung.

Mit dem Handy ist das Reservieren einfach geworden. Man kann sogar mehrere Aufträge gleichzeitig absetzen und dann den besten auswählen. Möglich ist auch, eine falsche Personenzahl anzugeben oder den Besuch ohne Absage ausfallen zu lassen, um dann bei der nächsten Party-Location vorbeizuschauen. Bei habgierigem Personal beliebt sind Scheinreservierungen, die mit Erwartung von Umsatzsteigerung und Trinkgeldern vorgenommen werden.

Stammgäste in Münchner Wirtshäusern verlassen sich auf Tische zum Dazu- oder baldigem Zusammensetzen. Bei der Wirtshaus Wiesn kommt aber das vergnügungssüchtige, junge Partyvolk und reserviert ihnen die Plätze weg. Fragwürdige Wirte, meistens Betriebswirte, lassen dies zu. Weisungsgebundene Kellner und Oberkeller müssen die Reservierungspflichten erfüllen. Der traditionelle Wirtshausgast wird von Tischgesellschaften abgewiesen, kann sich nirgendwo dazusetzen und muss weitergehen.

Anderswo in der Altstadt ist es aber genauso. Hat sich jemand mit Freunden verabredet oder will man sich in gewohnter Weise an bestimmten Wochentagen treffen, dann scheitern solche Vorhaben. Während der Wirtshaus Wiesn sitzen nämlich Weibchen und Männchen an Tischen mit dem, was sie für einmal jährlich auszuführende, bayerische Tracht halten, z. B. billige, fragwürdige Dirndlgwander und ebensolche Burschenlederne.

Der Faschingsspaß ist mit einem Übermaß an Bier und Lärm in Form von Schreien, Gröhlen und Maßkrugklopfen komplett. Fängt ein Tisch an, breitet sich das Spektakel seuchenartig aus. Was derzeit virusbedingt ausbleibt, ist nur die Vermischung der Tischgäste und das Besteigen der Bänke zum Tanzen.

Abstände und Masken werden eingehalten, die Hygienevorgaben insgesamt erfüllt. Gefüllt wird lediglich der Geldbeutel der Wirte, und gesteigert der Ärger von regelmäßigen Gästen, die solchen Unsinn nicht mitmachen wollen, z. B. Reservierung, Partysucht, Überfüllung.

Aus genau diesen Gründen war es vielen Münchnern verleidet worden, auf das Oktoberfest zu gehen. Als Ersatz wurde oder hat sich das Konzept der Oidn Wiesn entwickelt. Wirte hatten jedoch schnell erkannt, dass Party machen mit Wirtshausalibi mehr Geld einbringt. Traditionen, Volks- und Wirtshauskultur waren in Festzelten der Oidn Wiesn ebenfalls missbraucht worden.

Die Wiesn war kein münchnerisches, bayerisches Volksfest mehr und schon gar kein Lebensgefühl, sondern ein schmutziges Geschäft mit dem Besäufnis von hiesigen, außerbayrischen und internationalen Partysüchtigen.

Da darf eine Wirtshaus Wiesn anstatt des abgesagten Oktoberfests natürlich keine Ausnahme machen. Dabei ist es egal, ob das als Ersatz, Erinnerung oder Alternative gesehen wird. Ein Marketingkonzept mit dem üblichen Wiesn-Tralala wird schnell erstellt. Einige Wirte müssen einem beschränkten Publikum nur in Komplizenschaft mit Medien einreden, dass es ein Wiesnfeeling schon immer hatte oder gegenwärtig dringend braucht.

Ein Feeling ist natürlich etwas Besseres als ein Gefühl, weil es moderner klingt, und der gemeine Isarpreiß weiß dann sofort, was er zu tun hat. Da hängen doch noch billige Lederhose, kariertes Hemd und pfiffiges Halstuch vom letzten Jahr ungenutzt im Schrank. Schnell kommt mit Facebook-Freuden oder WhatsApp-Gruppen eine Verabredung und Reservierung zur Wirtshaus Wiesn zustande. Hallo-Tschüss-Preißnweiber mit ihrem Rabatt-Polyester-Dirndlgwand machen es ebenso.

Nichts geht mehr auf das Feiern in Münchner Wirtshäusern nach Hochzeit und Pferderennen im Jahr 1810 zurück – was gerne von Wirten behauptet wird. Sie haben in Ihrer Gewinnsucht und Verblendung nicht erkannt, dass die wiesntypische Erweiterung des Speisen- und Bierangebots, ein paar gehängte Lebkuchenherzen und teilweise ein bisschen billige Livemusik den Gästen noch keine Lebensfreude vermitteln können. Es soll aber auch passende Ausnahmen bei Speisenqualität und Wirtshausmusik geben.

Die weitere Behauptung, dass Wirte Lebensfreude verschenken, ist fast schon zynisch, weil man im Wirtshaus für alles bezahlen muss. Die Preise der Wirtshaus-Wiesn-Wirte beinhalten auch zusätzliche Angebote, ohne Gewinne zu schmälern. Argumente für die Wirtshaus Wiesn wie Feiertradition, Wiesngefühl und geschenkte Lebensfreude sind nach meiner Meinung scheinheilige, überhebliche Täuschungs- und Werbeversuche.

Insgesamt ist die Wirtshaus Wiesn ein unpassende Geschäftemacherei unter den Augen einer überforderten Stadtverwaltung.

Etliche städtische Stellen wären eigentlich für die Gesundheit der Bürger verantwortlich gewesen. Ein Stab für außergewöhnliche Ereignisse unter der Leitung des Oberbürgermeisters musste aber mit einer neuen Fünf-Personen-Begrenzung am Wirtshaustisch bremsen. Das Jammern der Wirte war groß. Sie forderten Planungssicherheit, weil ihre Lokale schon vollständig reserviert waren. Einige waren immerhin so gescheit und haben nicht öffentlich gemeckert, sondern geschwiegen. Wirte und Partygäste haben aus der Wirtshaus Wiesn eine Krisen Wiesn gemacht.

Jetzt könnte man sagen, das sind doch auch alles Münchner, die so eine Veranstaltung wollen. Ich bin hingegen überzeugt, dass dem nicht so ist, weil Zwänge bestehen, z. B. Mitmachen, Konsumieren, Party, Partnersuche. Die Frage nach der Herkunft der Gäste muss man mit der Gegenfrage beantworten, ob es Münchner derzeit noch gibt. Außerbayrisch Zugezogene, Personen mit Migrationshintergrund und Kurztouristen bestimmen nämlich das Straßenbild in München. Wenigstens war das so bei der Eröffnung zwischen Viktualienmarkt und Platzl sowie bei meinen Besuchen im Hofbräuhaus.

Am ersten Wirtshaus-Wiesn-Samstag sah man Menschentrauben ohne Abstand und Masken vor den entsprechenden Einrichtungen. Der sogenannte Biergarten auf dem Viktualienmarkt versteckte sich, bedingt durch Virus und Geschmacklosigkeit, hinter einem hässlichen Bretterverschlag mit Servicezwang. Eigentlich ist er ja nur eine Imbissbude mit Schänke und Sitzgelegenheiten, wobei man sich das minderwertige Angebot derzeit servieren lassen muss. Die Gartenabteilungen des Schneider Bräuhauses und der anderen Gaststätten im Tal waren unter dem Gewimmel mit den vielen Passanten kaum auszumachen. Der Augustiner am Platzl vergrößerte sich auf dem Gehsteig der Bräuhausstraße um eine Stehabteilung.

Hygienevorschriften werden nicht in den Wirtshäusern, sondern um die Gastbetriebe, aber wegen der Wirtshaus Wiesn missachtet.

Wirtshaus Wiesn 2020 im Hofbräuhaus

Vor dem Hofbräuhaus fragte ich einen Sicherheits-Mitarbeiter, ob der Festsaal geöffnet sei, weil er als Türsteher arbeitete. Die Antwort war: „Wenn Sie Reservierung haben, können Sie gehen.“ Ich verzichtete zwangsläufig, fand aber dann im vollen Biergarten keinen Platz. Danach konnte ich mich wenigstens in der Schwemme wegen der noch erlaubten Zehn-Personen-Tische zu Touristen dazusetzen.

Die Fenster waren mit Lebkuchenherzen dekoriert. Auf einer eigenen Speisekarte wurden Hofbräuhaus-Wiesnbier und sogenannte Wiesnschmankerl angeboten. Ich bestellte lieber das mir wohlschmeckende, gewohnte Bier und verzichtete auf solche Besonderheiten, weil ich die Küche kenne und weiß, dass so wie fast in der gesamten Münchner Innenstadt nur mehr vorgefertigte, haltbare und aufgewärmte Speisen angeboten werden. Die Frische der Zubereitung konnte man lediglich auf der Wiesn sehen und schmecken. Das war aber nur zu erleben, weil die Stadtverwaltung alle Wirtebewerbungen zu Qualitätskriterien gezwungen hatte.

Bei der Livemusik beschränkte sich das Hofbräuhaus im Gegensatz zu anderen Wirtshaus-Wiesn-Teilnehmern auf drei übliche Obermüller Musikanten. Ursprünglich wollte ich zu Alois Altmann und seine Isarspatzen im Hofbräukeller. Dort wurde ich jedoch wegen vollständiger Reservierung so wie vor dem Festsaal des Hofbräuhauses abgewiesen. Insgesamt vermute ich eine hohe Übertragbarkeit und Vergleichbarkeit meines Erlebens im Blick auf andere teilnehmende Gastronomiebetriebe. Die folgende Bemerkung muss ich aber voranstellen.

Meine Erfahrungen im Hofbräuhaus verstehen sich als Beispiel für die Wirtshaus Wiesn.

Während der ersten Wiesn-Wirtshaus-Woche stellte ich mit Bedauern fest, dass die Tische um die Musikbühne reserviert waren. Ein mir gewogener Kellner setzte mich und einen Bekannten an einen entfernten Platz zu einem Touristenpaar. Zwei weitere Bekannte mussten sich wiederum anderswo platzieren. Ich ärgerte mich, weil Reservierungen gegenüber Stammgästen bevorzugt wurden und in der Schwemme bislang nur in Ausnahmefällen möglich waren.

Zum Beginn der zweiten Woche kam es noch schlimmer. Alle Tische in der hohen Schwemme waren reserviert oder mit drei bis fünf Personen gefüllt. Wieder wollten mir ein Kellner und sogar der Oberkellner helfen. Letzterer setzte mich an einen reservierten Stammtisch. Als der erste Stammtischgast kam, erklärte er mir, mindestens drei weitere zu erwarten. Deshalb musste ich mich mit dem verabredeten, soeben eingetroffenen und befreundeten Stammgast an zwei noch freie Plätze zu Touristen an das Ende der niederen Schwemme setzen.

Zwei andere Stammgäste, mit denen wir immer zusammensitzen, suchten uns, mussten sich aber einzeln an zwei verschiedene andere Tische dazusetzen. Wir waren gezwungen, den Verlust der Gemeinsamkeit und Gemütlichkeit mit dem starken Wiesnbier zu betäuben. Diese versuchte Krisenbewältigung wirkte leider nur kurzfristig. Beim allseitigen Verabschieden machten wir unserem Ärger im Sitzen ohne und im Stehen mit Maske Luft.

  • Erst war das Hofbräuhaus so gescheit, den Tisch 49 zu sperren, der üblicherweise täglich von Münchnern besetzt ist,
  • dann reservierte man Tische um die Musikbühne
  • und schließlich fast die gesamte Schwemme.

Das Hofbräuhaus ist natürlich nicht auf einheimische Gäste angewiesen. Es kommen aber auch die Herbst- und Wintermonate, das weitere Ausbleiben von Touristen und Messebesuchern sowie leider und wahrscheinlich das Steigen der Infektionszahlen.

Der schöne Biergarten hatte mein Wirtshausumfeld und mich in diesem ersten Pandemie-Jahr noch an das Hofbräuhaus gebunden, obwohl ich lieber bei anderen Ereignissen fotografierte und mich dort verabredete, z. B. bei Blasmusik und Trachtentänzen im Rahmen der Veranstaltung Sommer in der Stadt. Eine Blaskapelle konnte man seit der Wiederöffnung im Hofbräuhauses nicht erleben.

Das dortige Personal und die jeweiligen drei Musikanten blieben uns aber bekannt und gewogen. Bis zur Wirtshaus Wiesn waren Tische der hohen Schwemme nur bei sinnvollen, begründeten Besonderheiten reserviert worden. Sollten jedoch regelmäßige Gäste ohne Reservierung nach dieser fragwürdigen Veranstaltung weiter so gering geschätzt werden, dann kann es bei den wenig verbliebenen Einheimischen zu anderen Orientierungen kommen.

Derzeit ist unsere Wirtshaus-Gemeinschaft auf das Hofbräuhaus ausgelegt – ebenso wie mein gegenwärtiges Schreiben, aber fast nicht mehr das Fotografieren. Die gesamte Angelegenheit der Wirtshaus Wiesn wirft die Frage auf, wem das Hofbräuhaus überhaupt gehört. Eine einfache Antwort ist natürlich: dem bayerischen Staatsvolk und im Besonderen den traditionsbewussten, altbayrischen Einheimischen.

Finanzministerium, Brauerei und Wirte haben nur die Aufgabe, diesem Personenkreis zu dienen. Stattdessen versuchen sie, in habgieriger Weise Touristen und feierwütiges Partyvolk auszunehmen, um Umsatz und Gewinne zu steigern. Pfui Deife!

Dem Hofbräuhaus das Fernbleiben anzukündigen, wäre natürlich lächerlich, weil es sich ohne Einheimische betreiben lässt. Die Wirtshaus Wiesn geht vorbei, ein kitschiges Lebkuchenherz und das Münchner Kindl haben Schieflage, das Hofbräuhaus ist ergraut und verblasst – wie auf dem Titelbild, bei dem nichts zusammenpasst. Karl Valentin hätte mit dem Satz geschimpft:

Sie sind auf uns nicht angewiesen, aber wir auf Sie, das müssen Sie sich merken.

Meine Art mit solchen Problemen umzugehen, ist das Schreiben. Seit Tagen trage ich den Unmut über die Reservierungen mit mir herum. Gestern war das Maß voll, und heute kann ich mich mit diesem Beitrag befreien. Dabei sehe ich nicht meine Person, das Fotografieren, mein Umfeld und das Hofbräuhaus im Vordergrund, sondern die viel gerühmte und leider häufig missbrauchte Münchner Wirtshauskultur.


Nachtrag am 8. Oktober 2020 – Hygienekonzept im Hofbräuhaus 

Im Hofbräuhaus sind Tische wegen des Mindestabstands und der Begrenzung von Gästezahlen entfernt, auseinandergestellt und mit Aufklebern als gesperrt markiert worden. Bedauerlicherweise kann ausgerechnet der Tisch 49 nicht mehr genutzt werden. Er befindet sich bei der Musikbühne am Durchgang von der hohen zur niederen Schwemme und war vor der Krise fast täglich ein Treffpunkt für Münchner gewesen. Heute müssen sie auf Tische an der Fensterseite ausweichen und verstehen den Sinn gerade dieser Sperrung nicht.

Der Tisch 49 ist sogar während der fragwürdigen Wirtshaus Wiesn frei geblieben. In der Folgewoche am Donnerstag, den 8. Oktober 2020, sitze ich mit Stammgästen am Nebentisch, während ein Kellner Tischdecken bringt und erklärt, dass der Chef kommt. Ich kann es kaum glauben, weil doch ein Chef Vorbild bei der Einhaltung von Auflagen, Regeln und des eigenen Hygienekonzepts für das Personal und die Gäste sein soll. Außerdem wären andere Tische für eine spontane Belegung frei gewesen.

Das Hofbräuhaus plant vermutlich einen bewussten Regelverstoß und eine stillschweigende Duldung trotz steigender Infektionszahlen. Man bedenkt nicht, dass gegenwärtig an vielen Wirtshaustischen über eine besondere Strenge des Kreisverwaltungsreferats gegenüber Innenstadtwirten und die Durchsetzung mit Bußgeldern gesprochen wird. Die Gästeregistrierung und Tischdesinfizierung hat das Hofbräuhaus ohnehin schon längst aufgegeben.

Unsere Tischgemeinschaft muss sich das Eindecken anschauen, obwohl der gesperrte Tisch über Jahre unser Heimattisch gewesen war. An allen Tischen gibt es derzeit nicht einmal Bierfilzl, und Kellner übersehen natürlich Wasserpfützen, die sie beim Servieren der Maßkrüge und Gläser hinterlassen. Gäste müssen sich mit Taschentüchern und Servietten selbst behelfen. Ein Teil unserer Tischgesellschaft befürchtet, dass der Nebentisch ungerechtfertigt bevorzugt wird, und sieht dies als unverständlichen, herausfordernden Machtanspruch.

Der sogenannte Chef – oder besser gesagt einer der beiden Betriebspächter – trifft ein, grüßt seine ihm teilweise bekannten Gäste an unserem Tisch mit Gesten und nimmt mit mehreren Begleitern am Tisch 49 Platz. Ein Kellner bringt umgehend Bier in Maßkrügen. Sofort spielen die Musikanten ein Prosit der Gemütlichkeit. Gäste an beiden Tischen prosten sich zuerst untereinander und dann tischübergreifend zu.

Ich beachte den Nachbartisch nicht und plane den baldigen Aufbruch. Unser Tisch zeigt sich weiterhin uneinig über die Bewertung dieser fragwürdigen Situation. Es kommt sogar soweit, dass ich einen ansonsten geschätzten Tischnachbarn als Preißn bezeichnen muss.

Zwischendurch geht ein langjähriger Stammgast von unserem Tisch zum Pächter, redet und gestikuliert eifrig und viel. Das Ergebnis ist, dass der Pächter einen Kellner beauftragt, uns zu fragen, was wir trinken wollen, weil der Chef eine Tischrunde ausgibt. Ich lehne ab und andere wegen ihrer noch gut gefüllten Krüge ebenfalls. Kurze Zeit später stellt der Kellner fünf volle Maßkrüge in die Tischmitte.

Der selbsternannte Freibiervermittler ist stolz auf seine Beute. Ich erkläre, am Aufbrechen zu sein und kein erbetteltes Bier zu wollen. Aufgebracht fragt er in die Runde, ob sie ihn denn als Bettler sehen würden. Alle schweigen, und ich verabschiede mich mit der Bemerkung, dass ich mich nicht kaufen lasse. Andere stimmen mir zu.

Wie es weitergegangen ist, weiß ich nicht und ist mir egal. Daheim muss ich diese Hofbräuhaus Geschichte aufschreiben, um mich öffentlich von einer Last zu befreien. Zum Hygienekonzept des Hofbräuhauses gehört, dass niemand an gesperrten Tischen sitzen darf und Tischdecken bekommt. Diese verdecken natürlich die Gesperrt-Markierung vor den Augen fast aller Gäste, aber nicht vor dem Wissen der Stammgäste. Verstöße gegen das eigene Hygienekonzept bleiben Verstöße – auch bei einem Chef und trotz unpersönlichem, unbegründetem Freibier, das vermutlich nur einer wollte.

Festzustellen ist, dass nicht nur Coronamaßnahmen, sondern auch Ungleichbehandlungen einen Grant bewirken können. In der Pandemie müssen Regeln einheitlich durchgesetzt werden und Personen gleichrangig sein. Das Virus kennt keine Unterschiede. Pächter haben nur die Funktion von Dienstleistern mit denselben Vorgaben wie für Gäste und Personal.

In der vermutlich frühen Coronakrise gilt nicht mehr der in München und Altbayern bekannte und beliebte Spruch:

„Wer ko, der ko“, sondern „Wer ko, derf a blos des, wos andre derfan.“

Freibier wird normalerweise mit Wohlwollen und Dank angenommen. In Verbindung mit fragwürdigem Verhalten kann es dagegen verschieden bewertet werden. Das Gesamtgeschehen war aber sicherlich nur eine Ausnahme innerhalb der vielfältigen Beziehungsangelegenheiten und Organisationsstrukturen des Hofbräuhauses.

Für mich ist es natürlich nicht erfreulich, so etwas zu erleben und aufzuschreiben. Meine Entlastung, Freiheit und Weiterentwicklung dulden aber kein Schweigen, obwohl es mir manchmal lieber wäre.

Bewertet man Betteln und Spenden, dann werden solche Handlungen und Personen nicht in ihrer Gesamtheit gemocht oder abgelehnt. Es sind meist einzelne Verhaltensweisen die unterschiedlich gesehen werden, z. B. nicht gerechtfertigte Machtansprüche oder Habgier in Verbindung mit Geiz. Nicht zuletzt gibt es aber auch die Freuden des Grantelns, damit Beziehungen wieder unbelastet und frei werden.

4 Kommentare

  1. Lieber Sepp,
    ich kann deinen Unmut vollstens verstehen. Als echte Münchnerin und auch noch „native-speaking“, was hier ja schon eine Seltenheit ist, komme ich mir schon seit Jahren vor, als wäre ich in meiner Heimatstadt fremd und reagiere traurig, frustriert und teilweise auch aggressiv.
    Die sogenannten „Neu-Münchner“ (mit spitzer Schnute) nehmen mir langsam meinen Lebensraum, sprachlich, kulturell und persönlich.
    Dass Helmut und ich bei dir und deinen Spezln in der Schwemm eine „Heimat“ gefunden haben, wo wir noch sein können wie wir sind, dafür sind wir sehr froh. Es ist schon schad, dass wir „Echte“ (und so geht es mir auch im Trachtenverein u.ä.) uns „zusammenrotten“ müssen, um gleichgesinnte Leut zu treffen.
    Es heißt doch bei uns eigentlich „leb’n und leb’n lassen“, aber das funktioniert wohl nicht so.
    Ich könnt jetzt auch noch einen sehr bissigen Kommentar über unser Partyvolk schreiben, aber da würde ich Worte wählen, die ich normalerweise nicht verwenden würde.
    Danke wieder einmal für deinen mir wirklich aus dem HERZen sprechenden Kommentar
    die Moni

    • Liebe Moni,
      ich freue mich immer über Euer Kommen und über Deine vielen E-Mails zum privaten Newsletter. Dein erster öffentlicher Kommentar in meinem Angebot ist mir eine ganz besondere Freude, weil er unser einvernehmliches Denken weltweit dokumentiert. Deine Offenheit finde ich großartig. Nur eines darf ich antworten: Rückzug wäre die falsche Reaktion. Wir müssen uns mit angemessenen Mitteln und unseren Stärken wehren und angreifen. Bei Euch ist es die gelebte Volkskultur, bei mir Fotografieren und Schreiben, um nur einige Beispiele zu nennen. Unsere Treffen am Tisch 49 in der Schwemme waren ein Stück Heimat, das wir wiedergewinnen werden.
      Herzliche Grüße
      Sepp

  2. Servus Sepp,
    wie Du weißt bin ich ja auch nur zug’reist, ich bin aber froh, dass ich aufgenommen wurde in die Wirthauskultur um die Du trauerst. Es ist wirklich sehr bedauerlich, dass das normale Miteinander so verloren geht.
    Herzliche Grüße,
    Inga

    • Liebe Inga,
      erst einmal freue ich mich riesig, von Dir zu lesen und weil Du hier öffentlich kommentierst. In altbayerischen Wirtshausgemeinschaften werden alle freundlich aufgenommen, die dazugehören wollen und sich einfügen können. Wer wegen des normalen Miteinanders ins Wirtshaus geht, ist keine Zuagroaste, sondern eine Zugehörige. Du bist immer eingeladen. Schau doch in den nächsten Wochen vorbei. Die meisten kennst Du ja. Wir würden uns freuen und sind kein Stammtisch mit Pflichten, sondern ein offenes Treffen mit Freiheiten.
      Herzliche Grüße
      Sepp

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